In Sankt Petersburgs ältestem und wohlhabenstem Viertel findet man einen winzigen Schaukasten für Psychoanalyse, zeitgenössische Kunst und Träume. Freuds Traum-Museum, das von dem Kurator und Analysten Victor Mazin gegründet wurde, stellt das Undarstellbare dar.

 

                       Sometimes in the city, sometimes in my car

                       I pound on the windows like a bee inside a jar

                                               -Pat Benatar, Anxiety (Get nervous)

 

So treten wir also durch das Portal dieses kleinen Museums.

 

In diesem Sommer lud mich Freuds Traum-Museum dazu ein, die Dreamachine eine Woche im September auszustellen. Ich hatte eben den Auftrag angenommen, die psychoaktive, halluzinogene Lampe für den deutschen Sammler Alexander Schröder zu bauen, und so nahm ich die Schröder-Maschine selbst nach Petersburg mit – es sollte eine Woche mit Rekordbesuchen in der acht Jahre alten Einrichtung werden.

 

Sankt Petersburg wird manchmal die „Seele Rußlands“ genannt. Golden und lieblich leuchtet es im Sonnenuntergang, mit Wänden, Kathedralen, Kolonnaden und gewölbten Brücken aus geädertem Marmor und silbernen Brunnenbecken, die auf weiten Plätzen und in wohlriechenden Gärten prismatisch gischten. Breite Boulevards laufen zwischen zierlichen Baumreihen und blütenschweren Urnen entlang; Elfenbeinstatuen stehen in leuchtenden Reihen. Dächerreihen ranken sich die steilen nördlichen Hänge der Stadt empor, wo alte spitze Giebel sich über schmale, grasüberwachsene Gassen hinauslehnen. Hier herrscht ein göttliches Fieber, das nicht einmal Saturn würde kühlen wollen, eine überirdische Fanfare majestätischer Blechbläser, dargebracht von Traumpavianen.

 

Ein Geheimnis liegt über Sankt Petersburg wie eine Wolkenschicht über einem sagenhaften, unbestiegenen Berg. Obgleich häufig besucht, und immer wieder besetzt, fragt man sich wie in einem Traum: Hat irgendjemand Petrograd erreicht? Die Stadt mit den vielen Spitznamen stellt Altes und Neues nebeneinander, das Königtum und die Revolution, die Illusion und das Konkrete. Es ist die romantische Stadt eines Puschkin und eines Dostojewsky (der Nietzsche erfand), einer Katherina der Großen und eines Lenin (der wie Stalin der Meinung war, daß das Lustspiel nur der Architektur nachsteht) (Christian Kracht, Korrespondenz), eines Putin und einer Katherina der Zweiten (die die Mennoniten vor der Auslöschung bewahrte). Die Sonne geht fast nicht unter, und im späten Frühling steigt Feuchtigkeit aus endlosen Kanälen auf, während man von Oktober bis April hören kann, wie Eisbrecher langsam durch die Neva schneiden. Es ist ein Ort, an dem der Wohlgeruch von vierzehn Honigsorten die meisten Lebensmittelläden verzaubert, und in den Wiens psychoanalytischer Eisbrecher Freud niemals einen Fuß gesetzt hat.

 

Nach der Landung unseres Flugzeuges war leider kein Abgesandter des Museums da, der uns – wie versprochen – hätte abholen sollen, und meine Sekretärin Sara hatte die Mobilnummer des Direktors nicht dabei. Ich schickte eine eher dringende SMS an Misha Kotomin von AdMarginem Books (siehe N. Fogel, Hypnotron) in Moskau, einem Bekannten, der Viktor Mazin kennen könnte – oder zumindest jemanden, der ihn kennt. Weit hergeholt, aber trotz seiner 11 Zeitzonen scheint Rußland eine kleine Welt zu sein: Misha: En route zu Freuds Traum-Museum. Frage mich, ob der Wagen von Direktor Mazin mit Gegenverkehr zusammengestoßen und in Flammen aufgegangen ist. Hättest Du vielleicht seine Mobilnummer? Grüße, David.

 

Misha antwortete aus Istanbul, wo er und seine Frau im Urlaub waren – er hatte weder von Freuds Traum-Museum noch von Viktor Mazin jemals etwas gehört. Es war 8 Uhr 30 und wir warteten auf dem Polkovo Airport bis Mittag, als eine matte Stimme im Museum antwortete. Es war Viktor. Sie hatten den ganzen Morgen versucht, mich zu erreichen, allerdings auf einer falsch notierten oder falsch verstandenen russischen Mobilnummer, die ich in einer Email notiert hatte (ich hatte das + vor dem Ländercode vergessen) – und hinzu kam, daß der Wagen auf uns am Auslandsflughafen Polkovo-II wartete, während wir via Kalinigrad am Inlandflughafen Pulkovo-I angekommen waren. „Wir haben auch gestern Nacht angerufen und keinen Schlaf bekommen“, versicherte er. Die Ausstellungseröffnung war für 5 Uhr 30 geplant, das erste Fernseh-Interview für 4 Uhr 30, und das Museum füllte sich.

 

Ich mietete einen üppigen Fahrer mit einem Wagen, aus dem russische Rapmusik knatterte, um uns vom Flughafen direkt zu Freuds Traum-Museum zu fahren – mit der in zwei Kisten verpackten Dreamachine von Herrn Schröder. Der Fahrer war ein tüchtiger, bubenhafter Mann, der sich schnell dazu entschloß, how to ease everything into his late model compact. Er stellte eine New Country-Station in seinem Radio ein und ab ging es auf die Autobahn. Aus meinem Rucksack holte ich eine CD der russischen Rap-Sensation Krovostok (Blutrinne: jene Vertiefung oder jener Einschnitt, der an der Klinge eines traditionellen russischen Militärmessers entlangläuft), die ich im März von Ivan Razumov, Krovostoks Manager und Enkel von Stalins Lieblingskünstler, erhalten hatte. Unser Fahrer ließ seine Zähne aufblitzen und streckte den Daumen nach oben. „Krovostok – das Beste!“. Er ließ meine CD in seine Anlage gleiten und drehte sie auf. „Krovostok verwendet viele Slang-Ausdrücke, wie „verfluchte Scheiße““, grinste er verschwörerisch. Ich reichte die CD-Hülle über meine Schulter an Sara weiter, die still auf dem Rücksitz saß, und aus irgendeinem Grund she passed on the impromptu enlightenment. Wir überquerten einige Brücken, und unser Fahrer rauchte jetzt eine Marijuhana-Zigarette und sah dabei beunruhigend unnervös aus. Ich verband ihn über mein Telefon mit dem alten Knaben Viktor, einem elfenhaften Herrn who would soon emerge from a mansion donning a hoodie – eine Mischung aus Lady Sovereign und Dr Penrose.

 

Wir waren im historischen Petrograd angekommen und parkten vor dem Osteuropäischen Institut für Psychoanalyse, das einen großen Teil des Steinbaus belegt, in dem Freuds Freundin der späten Jahre, Lou Salomé, geboren wurde und aufwuchs. Unser Fahrer nahm meine 600 Rubel mit einem unterwürfigen Grinsen, beugte leicht das Knie, gab mir die Krovostok-CD zurück und verschwand im Verkehr, ein vielversprechendes erstes Exemplar des Sankt Petersburgers Volkskörpers.

 

Ein verchromtes Drehkreuz und ein Security-Mann im Sessel, dann geht es einen Erdgeschoß-Korridor entlang, durch eine Tür mit einer geheimnisvollen Kupfertafel mit der Abbildung eines Pavians – und man ist in einer anderen Welt: in einem Mikrokosmos, der in scharfem Kontrast zu den ansonsten klinischen Gängen des restlichen Gebäudes steht. Freuds Traum-Museum ist eine Hommage an Vielerlei: an Gedanken, an Psychoanalyse, an Freud und seine bahnbrechende Traumdeutung, an zeitgenössische Kunst, an die Vision seines Gründers Viktor Mazin und, natürlich, an Träume selbst. Es ist eine fensterlose Welt, angefüllt mit dunkel-gemusterter Tapete, Spiegeln, Glas, Schatten und Schichten von Objekten und Texten, all dies getaucht in eine unwirkliche Atmosphäre. „Die Wirklichkeit ist das größte Fragezeichen im Museum“, sagte Viktor, ein leise sprechendes Wesen – Kurator, Gelehrter, Publizist und Psychoanalyst, der die kleine Einrichtung am 4. November 1999 eröffnete, auf den Tag genau 100 Jahre nach der Erstveröffentlichung der Traumdeutung in Wien.

 

Victor wandte sich mir zu und flüsterte: „Als Sie gerade anriefen, klang es, als liefe Krovostok im Hintergrund…“

 

„Einge seiner Titel mag ich wirklich“, flüsterte ich zurück. „Ich habe eine CD von Berlin mitgebracht, und unser Fahrer freute sich sehr darüber, sie in seinem Auto spielen zu dürfen. Krovostok ist seine Lieblingsgruppe“.

 

„Krovostok sind gute Freunde von uns, und sie sind wirklich noch nicht so bekannt. Es ist für uns immer interessant zu sehen, wie sie, wenn überhaupt, von der Öffentlichkeit wahrgenommen werden“.

 

„Schwer zu sagen, wie „öffentlich“ ein zufälliger Fahrer sein mag. Er wirkte mehr wie ein Vertreter der Öffentlichkeit als eine reale Person – und er sagte: ‚Krovostok ist das Beste!’“

 

Victor war offensichtlich beeindruckt, und ich war offensichtlich beeindruckt, daß er beeindruckt war. Wir kehrten zu unserer normalen Stimmlage zurück.

 

In den ersten beiden Räumen werden die Besucher von der visuellen Entfaltung der Freud’schen Theorie begrüßt: das Unbewußte und sein Einfluß auf persönliches Verhalten; die Unterscheidungen zwischen Es, Ich und Über-Ich. Freud schrieb, „die Traumdeutung ist der Königsweg zum Verständnis des Unbewußten“. Außerdem führen Träume wie über goldene Bögen zu unterdrückten Wünschen. Fotografien von Freud und seinem Kreis, Zitate aus seinem Werk und Ausgaben von Büchern geben in eingerahmten Vitrinen und gestreckten, matt beleuchteten Glaskästen einen Überblick über Freuds Leben und über die Geschichte der Psychoanalyse.

 

Entlang der Rückwand des Raumes wird die biographische Linie durch zehn Zeichnungen des russischen Künstlers Pavel Pepperstein unterbrochen, die Freuds wichtigste Träume darstellen (einschließlich einer lustig-haha!-Wiedergabe des berühmten Traumes von Irmas Injektion). Über dem Eingang hängt ein rätselhaftes Rebus, bestehend aus einer Reihe zerstückelter Symbole; über der gegenüberliegenden Tür hängt ein Freund-Diptychon, wiedergegeben in schwarzen Schatten, weißem Rauschen und Grau – gemalt von Vladimir Kustov, der zusammen mit Mazin das Konzept des Museums entworfen hatte. „Freud vergleicht sehr oft den Traum mit einem Rebus. Beide sind Rätsel, die auflösbar sind, wenn man den Code kennt. Und das Gemälde? Künstler verstehen Psychoanalyse besser als Analysten. Kustov hatte die Idee mit der Spaltung des Bildes ohne irgendeinen Tip von meiner Seite…

 

Sie werden mich entschuldigen, wenn ich etwas verwirrt wirke“. Victors Tonfall änderte sich. „Heute Nachmittag erfuhren wir, daß eine sehr gute Freundin von uns gerade einige Menschen getötet hat…und dann selbst starb.“

 

„Oh, das tut mir leid“, sagte ich zögernd.

 

„Natalya Pivovarova war eine bekannte Petersburger Sängerin und Schauspielerin, die gerade mit ihrer Band unterwegs war und offensichtlich diesen Morgen mit ihrem Wagen auf die Gegenfahrbahn geriet. Dabei starben nicht nur sie und alle in ihrem Auto, sondern auch die Insassen des Autos, mit dem sie kollidierten und weitere Unfallbeteiligte“.

 

Das war ein klarer Fall von „Das nächste Mal bist Du vielleicht ein bißchen vorsichtiger mit dem, was Du als SMS schreibst. „Das tut mir leid“, wiederholte ich, eher überrascht von der Richtung, die die Dinge nahmen.

 

Es war jetzt Zeit, noch einmal über einen Teil meines Vortrags zu lesen, den ich Victor schon via Email geschickt hatte. Eine dankbare Dame aus Huntington Beach beschreibt dort, wie sie mit Hilfe der Dreamachine, die ich versehentlich in ihrer Obhut gelassen hatte, einen Frontalzusammenstoß vermeiden konnte:

           

Anfang des Jahres hatte ich eine wiederkehrende Erfahrung, wenn ich vor der Dreamachine saß. Es begann stets mit einer gewaltigen Explosion, wie eine Autobombe. Und dann sagte eine Stimme: „Du lebst. Öffne Deine Augen. Fahre“. Fahren: wieso, wohin? Ich sah keine Autos. Als die Stimme jedoch dringlicher klang, versuchte ich nichtsdestoweniger, meine Augen zu öffnen…

 

„Wenn Natalya nur eine Dreamachine verwendet hätte“, begann ich – und bereute es sogleich. Victor lächelte jetzt zum ersten Mal unachtsam, seine eulenhaften Augen entzündeten sich in kleine Feuer. Er erinnerte sich offensichtlich an die Bedrängnisse jener seltsamen kalifornischen Dame.

 

Wenn man mit geschlossenen Augen in die Dreamachine schaut, erzeugt sie klare Träume – es waren wohl eher die effekthascherischen Schlagzeilen, die sie hier bekannt machte. Russische Medien hatten in ihrer Vorberichterstattung zu der Ausstellung betont, daß der Rockmusiker Kurt Cobain in den Tagen und Stunden, die zu seinem frühzeitigen Ableben führten, die Dreamachine verwendet hätte. In der täglichen Schlange standen mehr Besucher, als wir erwartet hatten.

 

Wir untersuchen nicht mehr die Kunst des Sterbens…aber alle Augen enthalten, wenn sie ruhen, dieses Wissen. Der Körper weiß es. Und die Kamera zeigt es, unerbittlich.

                       -Susan Sontag, Vorwort zu Peter Hujars Portraits in Life and Death

 

Am Eingang fanden sich neben altgedienten Gästen und Unterstützern Ivan Razumov und Hermes Zygote, ein schlanker 50-jähriger Mann mit einem beaded beard und Augen wie Charles Manson. Hermes kam mir bekannt vor. Er lächelte und Viktor wandte sich mir zu: „ David, das ist Hermes. Er ist mein bester Freund“.

 

„Es freut mich sehr, Sie wiederzusehen, Hermes. Wir trafen uns kurz in Moskau im März letzten Jahres“, wagte ich einzuwerfen.

 

Hermes bestätigte meine Vermutung. Sein Anblick wurde von seinen neuen Schuhen geprägt – schwarze Leinwand-Slipper mit einem Fach für den großen Zeh und einem anderen für den Rest. Die Schuhe sahen wie Hufe aus, einem Attribut Satans. Im kommenden Monat sollte in Freuds Traummuseum eine Konferenz zum Thema teuflische Handlungen im Zeitalter des illuminierten Computermonitors stattfinden.

 

„Das sind Schuhe von japanischen Bauarbeitern“, sagte Hermes.

 

„Interessant…Was passiert, wenn ein riesiger Betonblock auf Ihre Füße fällt?“

 

„Er würde auf deren Füße fallen, nicht auf meine“.

 

„Ja, sicher“. Gesegnete Paranoia. „In diesem Fall würde es sich nur um fallenden Bambus handeln“.

 

Hermes war es, der uns vom Flughafen hätte abholen sollen, sagte man mir. Viktor glaubt wie ich nicht ans Autofahren. Ich fragte mich, mit was für einem Auto Hermes wohl unterwegs gewesen war.

 

            „Ein Paranoider ist jemand, der Bescheid weiß.“

                                   - W.S.Burroughs, Gespräch

 

Ein bebrillter Freud, gemalt in Schwarz und Weiß, der über der Tür hängt, dient als ein ahnungsvolles Willkommen für den zweiten Raum, in dem die Dinge plötzlich wieder zeit- und raumlos werden – wie in einem Traum, oder damals, als man tot war. Im Mittelpunkt des Raumes arbeitet, auf einem 1 x 1 x 1,5 Meter hohem Sockel, die Dreamachine. Dazu hört man eine 10minütige Komposition namens „Sssexy“, aufgenommen vom elektronischen Ensemble Plecid; sie besteht aus Sounds, die an  Radiostörgeräusche erinnern, die klangfarblich ständig variiert werden und die man hier etwas lauter hört als im ersten Raum. Die Atmosphäre ist nachdenklich und erinnert eher an ein Kuriositätenkabinett als an ein Museum. An jeder der Seitenwände steht eine 1 Meter 50 tiefe Glasvitrine, die mit Darstellungen aus Freuds Leben bestückt sist – persönlichen und beruflichen, eigenartigen und akademischen. Aufgehängt an nahezu unsichtbaren Drähten sind Dokumente, Photographien, Zeichnungen. Darstellungen von Objekten aus Freuds berühmter Kunstsammlung schimmern weich in dünnen Kästchen, die direkt hinter dem Vitrinenglas aufgestellt sind.

 

„Lehre Nummer 1 in Freuds Schriften ist, daß es sich bei jedem Traum um eine Erinnerung handelt. Daher müssen wir, wenn wir einen Traum darstellen wollen, Erinnerungen aus den verschiedenen Epochen von Freuds Leben zeigen, aber vor allem aus der Zeit, in der er Die Traumdeutung schrieb“, sagte Victor zu Sara (die einen Abschluß in Museologie an der Humboldt-Universität hat) und fügte hinzu, daß 99 Prozent der Objekte dieses Museums aus Schachteln, die sich im Freud-Museum London befinden, kopiert wurden.

 

Sara stieß zu einer interessanten Frage vor: „Sind das wirklich Kopien?“

 

Viktor blieb ruhig: „Wir handeln nicht mit Originalen. Im Traum handeln Sie mit Bildern. Diese sind keine Kopien, keine Originale, sondern Bilder – Bilder, die darauf warten, von der Dreamachine illuminiert zu werden…“. Victor blickte sanft zum jungen Anton Chasovskikh hinüber, dem Kurator der Ausstellung. Schlaksig, mit einem jugendlich-frischen Gesicht und Tom-Ford-Sonnenbrille setzte sich Antonin zu den Kisten mit der Dreamachine in Bewegung.

 

Im Traum-Raum befinden sich noch weitere, strategisch geschickt plazierte zeitgenössische Kunstwerke, die so gespiegelt werden, daß der Betrachter immer nur Fragmente von Objekten oder von Kunstwerken sehen kann. Auf Glas geschriebene Zitate, die nur lesbar sind, wenn man sie aus einem ganz bestimmten Blickwinkel betrachtet, veranschaulichen Freuds Theorie, daß die Bilder der Träume sowohl verdichtet als auch verschoben sind. Unglaubliche Arbeiten – so beispielsweise Totenmasken von Puschkin und Avantgarde-Komponist Sergej Kurjekin oder ein eleganter Glas-Phallus – sind so unscheinbar, daß man sie fast übersieht. Die Totenmaske von Puschkin befand sich in der Sammlung von Victors gutem Freund Sergei Kurjekhin. Fünf oder sechs Jahre nach dem Tod des Komponisten bat seine mutige Witwe Viktor darum, die Totenmaske Puschkins als ein Geschenk für Freuds Traum-Museum zu akzeptieren. Frau Kurjekhin fand, daß sich die Totenmaske Puschkins in ihrer Wohnung seltsam ausnahm – und Dr. Mazin nahm das Angebot dankbar an. Als die Berliner Künstlerin Joulia Strauss bemerkte, daß Puschkins Totenmaske aus der Kurjekhin-Sammlung hierher gekommen war, erinnerte Sie Mazin daran, daß sie Kurjekhins Totenmaske kurz nach seinem Ableben abgenommen hatte – und schenkte ihm Kurjekhins Maske. „Natürlich war ich hocherfreut, die Totenmaske meines Freundes in Freuds Traummuseum zu haben. Jetzt sind hier beide Totenmasken – Puschkins und Kurjekhins.

 

Wenn Besucher hier zum zweiten- oder dritten Mal durchlaufen, sagen sie meistens: ‚Oh, bei Ihnen hat sich aber viel geändert’, wir haben aber tatsächlich gar nichts verändert. Wir zeigen den Leuten, daß alles davon abhängt, wie sie die Dinge sehen, nicht davon, wie die Dinge in der sogenannten Realität ausschauen“, sagte Viktor. Ein schmales Gehäuse schimmert am Ende des Raumes wie ein blanker Bildschirm oder ein Trance-auslösender Altar. Ursprünglich ganz einfach dazu bestimmt, den Raum auszuleuchten, hat dieses Gehäuse Besucher dazu gebracht, lebendige Bilder ihrer selbst heraufzubeschwören, von denen viele in den Gästebüchern des Museums verzeichnet sind. Vorlaut lächelnd fügte Viktor hinzu: „Für uns ist es sehr ermutigend, wenn wir im Gästebuch lesen: ‚Irgendetwas ist mit mir passiert, ich weiß nicht was, aber irgendetwas hat sich verändert, und ich will wissen, was und warum’“.

 

Das Geräusch einer sich öffnenden Holzkiste lenkte meine Aufmerksamkeit auf den vorderen Raum. Anton packte die Basis der Lampe aus, die mit einem Motor bestückt ist; sie war in eine Daunendecke (down-filled comforter) eingewickelt. Er setzte sie sanft auf dem Tisch ab. Ich sah genau hin, als er die Lampenhalterung berührte. Anton bereitete die Dreamachine vor – mit schnellen, pragmatischen Handgriffen, aber auch vorsichtig, weil er meinen prüfenden Blick spürte.

 

An unserem zweiten Tag in Sankt Petersburg ließen wir uns treiben. Wir besuchten Viktors Frau Olesya an ihrem Arbeitsplatz im Russischen Museum. Das Museum lag ganz in der Nähe unserer Wohung. Olesya führte uns durch das riesenhafte Museum und hob besonders die Malewitchs und Matjuschins hervor. Matjuschin, der Theoretiker der Farbe und Komponist (Sieg über die Sonne), war, so könnte man fast sagen, ein Zeitgenosse Strawinskys. Später bekamen wir heraus, daß unser Appartment, das neben dem Sankt Petersburger Grand Hotel Astoria liegt, die geheime Zweitwohnung des Direktors des Russischen Museums ist und früher einmal Matjuschin als Liebesnest gedient hat. Später lebten hier für fünf oder sechs Monate Herr und Frau Brian Eno, als sie versuchten, sich auf Dauer in St. Petersburg niederzulassen. Dr. Mazin war es, der Eno nach Petersburg gezogen hatte – Eno arbeitete an dem permanenten Anbient-Soundtrack, der in Freuds Traum-Museum zu hören ist. Seit seiner Kindheit war Dr. Mazin ein Fan von Eno und David Bowie.

 

„Ivan Razumov ist ein großer Bewunderer der frühen Arbeiten Matjuschins“, sagte ich beiläufig und vielleicht lügend.

 

Olyesa, eine elfisch anmutende Dame, lächelte herzlich: „Natürlich bewundern wir Iwans Werk und hoffen, bald Bilder von ihm hier im Museum ausstellen zu können“.

 

Am Abend besuchten wir Sergei Bugaev Afrika, oder nur Afrika. Afrika war dabei behilflich, Enos Wohnsitz hier in Petersburg zu organisieren. Sein Vier-Zimmer-Penthouse-Atelier wird von nachdenklichen Portraits, Büsten und Figürchen von Stalin beherrscht, außerdem von Bildern bekannter schizophrener Künstler, mit denen er persönlich bekannt ist. Sein eigenes reiches Werk berührte mich als ein Komplex aus fleischigen Farbexperimenten auf Leinwand und unerklärlichen gigantischen Metall-Maschinen. Wir nippten Tee auf der Dachterrasse und bemerkten von dort das Dach eines Gebäudes auf der gegenüberliegenden Straßenseite, das man aus steuerlichen Gründen seiner alten Kuppel beraubt hatte. Afrika zeigte uns einige hübsche Matjuschin-Monographien und erklärte uns, daß Matjuschin der größte Künstler des zwanzigsten Jahrhunderts gewesen sei und von nachtragenden Westlern als „Vater des Futurismus“ trivialisiert würde. Aber seine Zeit käme noch. „Er hat eine Technik gefunden und zur Perfektion gebracht, um das zu malen, was hinter dem Kopf liegt“. Der mit Ahornsirup gesüßte Kräutertee verströmte über die Entfernung von zwei Metern ein angenehm kräftiges Aroma.

 

„Das ist das beste Auto des 20. Jahrhunderts“, sagte Hermes. In seinem schwarzen Mercedes 140/600 fuhren wir auf einem der großen Boulevards entlang. „Beste Karosserie, bester Motor“.

 

„Er ist so ruhig“, sagte ich, „Ruhig und stark. Wenn man mit diesem Wagen in einen tödlichen Unfall verwickelt wird, sind es wahrscheinlich die anderen, die…“

 

„Mit diesem Wagen wird es überhaupt keinen Unfall geben“, sagte er und erinnerte mich wirksam an die japanischen Arbeiterschuhe.

 

„Sicher hast Du recht. Ich meinte nur, daß wenn jemand einen Mercedes 140/600 fährt und etwas…Unerwartetes…passieren sollte, der Fahrer…vielleicht…sicher wäre.“

 

Hermes’ schwarzer Mercedes 140/600 kam an einer Ampel lautlos zum Stillstand – Hermes schien irgendetwas nicht zu behagen: „In Amerika, wo ich eine Weile lebte, sagt man: ‚Sei vorsichtig, was Du Dir wünschst’“. Er blickte über den dichten Verkehr hinweg. Wir sahen, wie Autos um eine Unfallstelle herumfuhren, an der ein Motorrad und…eine Leiche zu sehen waren, deren Kopf und Oberkörper unter einem Leintuch in der Mitte der Straße lag.

 

„Ein Unfall und eine Leiche“, bemerkte er richtigerweise. „Er wußte nie, daß das auf ihn wartete…Das ist die wichtigste, vielleicht die einzigste Sache, die in uns auf uns alle wartet“.

 

Mir gefiel die Formulierung ebenso wie das Gefühl. „Was immer wir auch sagen, es wird, auch wenn es nicht bereits richtig ist, dadurch, daß wir es sagen, richtig“, grübelte ich vor mich hin. „Jeder ist dafür verantwortlich, nur daß auszusprechen, was er gut durchdacht hat. Wir sollten alle die morschen, ausgesonderten Ideen, die durch die Urwälder unseres Bewußtseins streifen, unausgesprochen lassen“. Er lächelte erfrischend pädagogisch und zustimmend.

 

Freuds Traummuseum is more than a place for the contemptible to contemplate: Es ist zugleich die Idee und die Kindertagesstätte seines 49 Jahre alten Gründers, einem praktizierenden und lehrenden Psychoanalytiker. Victor, der auch lange Zeit als Kurator für Kunstausstellungen rund um den Globus aktiv war, sieht im Traummuseum den Konvergenzpunkt seiner ästhetischen und wissenschaftlichen Interessen. In seinem winzigen, mit karminroter Tapete ausgeschlagenen Büroraum neben dem Eingang zum Museum, in dem eine mit orientalischen Mustern bezogene Couch (wie diejenige Freuds) steht und aus dem vier gut aussehende studentische Kuratoren elegant hinein- und hinausgleiten, erklärt er, daß er Freud als Teenager entdeckte. In Sowjetrußland waren die Schriften des Analytikers „weder erlaubt, noch verboten“. Obwohl die ersten Freud-Übersetzungen aus dem Deutschen angeblich in Sankt Petersburg vollendet worden sind, wurde die Psychoanalyse im Kommunismus für eine Pseudo-Wissenschaft gehalten – so ungefähr wie heute Scientology in Deutschland.

 

Das Institut öffnete seine Pforten kurz nach der Perestroika. Die Psychoanalyse als Disziplin wurde 1996 in einem Dekret des damaligen Präsidenten Boris Jeltzin wieder eingesetzt. „Ich arbeite für das Institut, aber dies hier ist mein Territorium. Wir sind selbständig“. Victor, ein liebenswert fülliges Päckchen, saß neben Regalen, die mit Kabinet gefüllt waren, einem Kunstjournal, das er seit den frühen 90igern mit Freunden herausgab, und ließ ein schwarzes T-Shirt sehen, das mit dem Traummuseums-Logo des Weißen Pavians geschmückt war. Es taucht auch auf den Sitzpolstern und Teetassen des Museums auf. Der Pavian ist die irdische Inkarnation des ägyptischen Gottes Thoth, der uns das Wissen und die Hieroglyphen gab  - ein Schreibmethode, die Freud den Träumen verglich.

 

Aus dem Archiv von Freuds Traummuseum:

 

Der Pavian

…Freud wollte die narzistischen Triebe des Menschen mit seinem sozialen Verstand versöhnen. Der weiße Pavian des Toth mag ein Symbol für eine solche Versöhnung gewesen sein. Dieser weiße Affe ist eine Allegorie für die Harmonie von Gefühl und Verstand.

 

Toth ist der Gott der Weisheit, der Überlegung und der Schrift. Die alten Ägypter zweifelten nicht daran, daß es Toth war, der ihnen die Schrift der Hieroglyphen, die Zeit und ein verstandesmäßiges Leben gegeben hatte. Außerdem begleitete Toth die Menschen in das Land des Todes. Freud wählte die Hieroglyphen-Schrift als einen Vergleich für den Text der Träume, diesen temporären Tod, dieses ewige Leben.

 

Der weiße Pavian des Toth symbolisiert das übermenschliche Weisheitsideal. In ihm verdichten sich die psychoanalytischen Topoi von Begierde, Vernunft, Schrift, Zeit, Leben und Tod. Freuds Traummuseum ist das Museum des Pavians des Toth.

 

Am letzten Abend der Dreamachine-Ausstellung erwartete man von mir einen Vortrag über die Rolle der Baumverehrung in der Religionsgeschichte und den gleichzeitigen Einfluß von flimmerndem Sonnenlicht auf das primitive menschliche Gehirn. Hunderte von Teenagern standen vor dem Gebäude und die ganze Gebäudefront die Straße hinab Schlange, und der hintere Raum des Museums quoll über von Vertretern aller Gruppen, Proletariern, Snobs und Durchschnittsjugendlichen, alle voller Erwartung, die Augen geschlossen, die Mienen ungezwungen und entspannt.

 

In der Menge erkannte ich Ivan Razumov und Vladik Monroe, letzterer ein russischer Medientheoretiker und Transvestit, der im jüngsten Ketamin-getränkten Remake der musikalischen Komödie Volga Volga – Stalins Libelingsfilm – mitspielte. Die Dreamachine stand auf ihrem breiten Podest und war in Aktion – Teenager halluzinierten, einige wahrscheinlich zum ersten Mal. Da ich Englisch sprach, übersetzte Victor Absatz für Absatz in einem hypnotisch näselnden Tenor, der es den Zuhörern leicht machte, ihn mit dem großen weißen Pavian des ägyptischen Gottes Toth zu identifizieren. Wie bei den vorsprachlichen Primaten kreisten Menschenwesen an diesem Abend in Halbträumen um das visuelle Geheul von Sonnenstrahlen, die durch wiegendes Astwerk hindurch drangen, und bestaunten die neurologischen Ursprünge der Sprache – nein, sie bändelten ganz offen mit dem Weisheitsbaum an, befruchtet von den dünnen Eingeweiden des Toth!

 

Draußen war die gute alte Sonne verstummt. Die Eindrücke verschwammen und wurden ersetzt von konkreten Bildern und Tönen des ehemaligen Petrograds. „Der Traum, an den wir uns beim Aufwachen erinnern, wäre damit der Rest der Traumarbeit“, schrieb Dr. Freud, „und er entspräche sicherlich Traum-Gedanken, wenn wir uns an diese nur vollständig erinnern könnten.“

 

Leningrad ist eine Stadt, die keinerlei physische Verbindung zu Freud hat – und doch findet sich innerhalb ihrer Mauern das Haus, in dem die umwerfend schöne und hochintelligente Lou Salomé, mit einem flüchtigen Blick auf die „Reste von Traumarbeit“, sich höchstwahrscheinlich ein Museum imaginierte, in dem irgendwann einmal die Träume ihres

Traumboots nachhallen würden. Vielleicht hat sie die Idee einem Kindermädchen zugeflüstert.

 

Ich versetzte mich jetzt zurück in die Stadt des Traum-Denkens. Die größte Frage bleibt: Wo ist physische Verbindung notwendig?